NORDSTADT. Als mich Ende der Achtzigerjahre mein Freund Eric aus London das erste mal besuchte, machten wir abends wie selbstverständlich einen Zug durch die Nordstadt, Bonns lebendigstes Viertel. Eric, Filmegisseur und in der Welt herumgekommen, war hell begeistert. Er war angetan von den geschlossenen alten Straßenzügen und natürlich auch von den vielen Szenelokalen, die er als sehr modern, aber auch als ziemlich deutsch empfand – also sehr gemütlich. Diese Sicht eines Fremden hat mich damals stutzig und ein bisschen stolz gemacht. Schließlich war die Nordstadt mein zweites Wohnzimmer. Das ist sie zwar längst nicht mehr. Aber ich mag das Viertel immer noch, in dem ich mein erstes Büro hatte: Ecke Heerstraße Maxstraße. Unten stand eine Telefonzelle, die permanent übervölkert war – und die es heute noch gibt!
Über Jahre hinweg bin ich dort, wo man später das Bonner „Bermuda-Dreieck“ ortete, allabendlich eingekehrt, war wie jeder normale Jungakademiker ein rastloser Stammgast in Lokalen wie M8, BlaBla, Namemlos oder wie sie alle hießen und teilweise noch heißen. Später, jetzt bewohnten viele Deutschtürken und Lederjackenträger die Nordstadt, fand die tägliche Krabbelgruppe meines Sohnes im Oscar-Romero-Haus eine bukolische Bleibe, ein ehemaliges Stadtgefängnis und Obdachlosenasyl in der Heerstraße, wo auch mal die NSDAP gehaust hatte. Das Gebäude sollte Anfang der Siebziger Jahre wie so viele andere abgerissen werden, wurde aber auf Initiative eines Studentenpfarrers gerettet und in ein Alternativprojekt umgewandelt. Mehr neue Nordstadt geht nicht. Ich erinnere mich noch zu gut an das abenteuerlich enge und steile Treppenhaus.
„Willst du mich begleiten, so nimm dir gleich einige Taschentücher und ein Desinfizierungsmittel mit“, so beginnt ein Artikel der Bonner Tageszeitung aus dem Jahre 1905 über einen „aufblühenden Stadtteil“. Womit nichts anderes als die Nordstadt gemeint war. Das liberale, längst nicht mehr existente Blatt leistete Aufklärung über Bonns Gewerbeviertel zwischen Bahngleisen, Schlachthof und psychatrischer Anstalt, wo man vor Irren, Sozialisten und dem einfachen Volk nicht sicher war. Schon in meiner Studentenzeit kannte ich Urbonner, die vor und nach dem 2. Weltkrieg dort ihre Heimat hatten und allzu gern davon erzählten, von dem anderen Leben, als die Türen noch offen standen, die Schmuddelkinder im Rinnstein spielten, keiner ein Auto hatte und man Mülltonnen nicht brauchte. So erhielt ich so ganz nebenbei authentische Nachrichten aus einer noch gar nicht so fernen Zeit und aus einer spröden Gegend, die ein blinder Fleck im Bewusstsein dieser Stadt war.
Dies ist schon deshalb so, weil diejenigen, die dieses Bewusstsein prägen, natürlich dort nicht wohnen. Da erscheint es wie Ironie, dass ausgerechnet der berühmteste Künstler der Stadt, der gebürtige Sauerländer August Macke (also auch einer dieser Zuzügler), sich 1911 zu Ende seines kurzen Lebens für drei Jahre hier niederließ. Das Haus in der Bornheimer Straße 96 (früher 88), heute das Künstlermuseum August-Macke-Haus , das sein Atelier wurde, gehörte Mackes Schwiegervater, einem Unternehmer, der es bis dahin gewerblich genutzt hatte. Es handelt sich um ein zweistöckiges, typisches Bonner Vorstadthaus aus der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts (wie es sie etwa auch in Endenich oder am Bonner Talweg gibt), also deutlich kleiner als die etwa zeitgleich entstandenen Südstadthäuser. Die Lage hinter Brauerei, Knast und Friedhof und direkt neben der Bahn hat den Maler überhaupt nicht daran gehindert, hier äußerst produktiv zu sein. Im Gegenteil, hier war schon damals richtig was los auf den Straßen – ein Mekka für einen Maler. Macke machte sein Domizil ganz nebenbei zu einem Künstlertreffpunkt, wo er Max Ernst (damals Student in Bonn) und Franz Marc empfing, um nur zwei von vielen zu nennen. So wurde die Nordstadt zu einer Drehscheibe der modernen Kunst. Beim Besuch des Hauses bekommt man übrigens als unkünstlerische Zugabe, gerade weil das Treppenpaus fast so eng ist wie beim gar nicht weit entfernten Oscar-Romero-Haus, auch ein Gefühl dafür, was die Nordstadt war und ist. Auch ein Blick aus dem Fenster, wie ihn Macke ein ums andere mal gemalt hat, kann hier zur Zeitreise werden. Längst gibt es rührige Bemühungen – etwa seitens der Bonner Geschichtswerkstatt – Bonns urbane Gedächtnislücken aufzufrischen. Aber es gibt eben auch Kräfte, die das Stadtbewusstsein in ganz andere Richtungen polen.
Ein eklatanter Fall von Wort- und Bewusstseinsverdrehung passierte bereits in jenen öminösen Siebzigerjahren, also auch die Sprachmauern eingerissen wurden. Eines Tages, ich kam mit der Bahn nichtsahnend nach Bonn zurück, lag auf dem Sitzpolster neben mir der Express. Der tägliche Gehirnweichmacher meldete mittels der üblichen Klotzbuchstaben einen eklatanten Fall von Wortdiebstahl (ich glaube, es war auf der letzten, also zweitwichtigsten Seite). In dem Artikel war zu lesen, dass jüngst ein Kommitee Bonner Kneipenwirte, deren Lokale sämtlich in der Nordstadt lagen, zusammengesessen (natürlich in einer Kneipe) und schließlich beschlossen hätten, ihren gemeinsamen gastronomischen Standort künftig „Altstadt“ zu nennen. Wie bitte? Das klang reichlich irre.
Aber was dahinter steckte, war natürlich so klar wie ein Kurfürsten-Kölsch. Einerseits wollten sie den schlechten Namen der Nordstadt tilgen, dem Viertel der kleinen Leute, das nach Schmutz und Schweiß roch. Andererseits eiferten die pfiffigen Sprachregler ihren großen Vorbildern in Köln und Düsseldorf nach, Städte, deren traditionelle Vergnügungsviertel tatsächlich in der Altstadt liegen und deshalb auch so heißen. In Bonn war es dagegen eine echte und leider wegweisende Innovation: Es handelt sich um eines der frühen Beispiele für den nicht interessen-, aber bedenkenlosen Eingriff des Marketings – wenn auch noch in seiner vulgären Form – auf das allgemeine Stadtbewusstsein. Und diese Biertischmethode basierte wiederum auf dessen chronischer Schwäche.
Wäre die Bonner Innenstadt, also die historische Altstadt, als solche empfunden worden, hätte der linguistische Taschenspielertrick wohl gar nicht funktionieren können. Aber sie wurde nicht als solche gesehen (und benannt). Ein Grund dafür lag unter anderem im rigorosen Abriss der Stadtmauer. Sie wurde Ende des 19.Jahrhunderts – etwa im Gegensatz zu Köln, wo man sie ins Stadtbild integrierte – bedenkenlos dem Verkehr geopfert (und zwar dem Verkehr zwischen Innenstadt und Nordstadt). Das einzige vermeintliche Überbleibsel, das Sterntor, ist ein peinliches Imitat, das auch noch an der falschen Stelle steht. Historisches Selbstbewusstsein sieht anders aus. Wie überhaupt die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, deren mittels Mörtel garnierte Fassaden heute allenthalben Verzückung auslösen, auch eine Epoche ebenso rücksichtsloser wie weitreichender Zerstörung war. Doch das ist ein anderes spannendes Thema.
In jenen bereits mehrfach erwähnten Siebzigerjahren, eine weitere Epoche, in der die Geschichte wieder einmal ruppig abgeräumt wurde und die uns auf diese Weise etliche Scharten im Stadtbild bescherte – man denke nur an die legendäre „Südüberbauung“ vor dem Bahnhof sowie das neue „Stadthaus“ am Rande der Nordstadt, die beide aus der selben Abrissbirnenära stammen und dies mit Wortschöpfungen kaschieren. Denn bis dahin hatte es ein Rathaus gegegeben, aber kein „Stadthaus“. Dass dieses von Anbeginn ungeliebte Baugetüm selbst in eine aktuelle Abrissdiskussion geraten ist, entbehrt ebenfalls nicht der Ironie, steht jedoch auf einem anderen Blatt. Die Nordstadt begann sich drastisch zu wandeln. Die ursprünglichen Bewohner und ihre Geschäfte verschwanden nahezu vollständig. Zuzügler, nicht zuletzt Studenten und Einwanderer, veränderten das soziale Gewebe des Viertels und entwickelten ein neues, eigenes Selbstbewusstsein. Andererseits sorgte ihre schiere Gegenwart dafür, dass die Mietpreise nicht über alle Maßen stiegen. Am auffallendsten war dann eben die Zunahme von Studentenlokalen, die das Karree jenseits der Oxfordstraße zum obligatorischen Ziel des abendlichen Bummels und so auch zum Bestandteil des Stadtbewusstsein machte. Bonn hatte erstmals das, was man nun „Szeneviertel“ nannte. Und das wird heutzutage eben ganz unschuldig „Altstadt“ genannt – obwohl dieser auf jene Wirte der Tafelrunde zurückgehende Name sich natürlich auf keinem einzigen Bonner Stadtplan findet.
Das neu entstandene Kneipenviertel war, wie bereits erläutert, keineswegs die „Altstadt“. Er war just das Gegenteil, nämlich der oben erwähnte „aufblühenden Stadtteil“, also die Neustadt. Die war entstanden, als Bonn Ende des 19.Jahrhunderts zu einem angesagten Nobelort der Reichen und Superreichen wurde, der Immobilienmarkt daraufhin explodierte und die neuen Wohnquartiere innerhalb weniger Jahrzehnte weit über die Grenzen der heutigen Innenstadt – also der Altstadt- ins Umland hineinwuchsen. Für die beiden unterschiedlichen Teile dieser Neustadt wurden entsprechend ihrer geografischen Lage später zwei verschiedene Namen gebräuchlich: nämlich „Südstadt“ für die gutbürgerlichen Wohngebiete (mit Vorgarten und Stuckfassaden), sowie „Nordstadt“ für die der Handwerker und Arbeiter (die den Stuck produzierten und keine Vorgärten hatten). So weit, so gut und logisch. Wenn da nicht jene eigennützigen Sprachverdreher gewesen wären. Inzwischen hat ihre pfiffige Werbeidee, die auch noch völlig umsonst war, bereits für eine weitere Absurdität gesorgt. Der verdrängte Name „Nordstadt“ wird nämlich nun häufig für die Gebiete hinter dem Kaiser-Karl-Ring verwendet, also eine Gegend, die gerade außerhalb der eigentlichen Nordstadt liegt und früher manchmal als „äußere Nordstadt“ bezeichnet wurde.
Alles nur Wortklauberei? Ich halte diese ursprünglich kommenziell motivierte Nomenklatur für absurd und für einen bedauerlichen Fall von Identitätsverlust. Das ist in Bonn zwar leider nicht untypisch, aber trotzdem völlig unakzeptabel. Es ist doch so ähnlich wie früher in der Nordstadt, als dort noch die Händler mit ihren Bauchläden von Haustür zu Haustür zogen und den Hausfrauen das Blaue vom Himmel versprachen. Aber wenn jemand das, was er verkaufen will, für etwas anderes ausgibt, ist das zumindest Täuschung oder Betrug. Wollen wir uns täuschen lassen? bp wird fortgesetzt
Die Schwarzweiß-Abbildungen sind dem Buch entnommen: „.. tranken dünnen Kaffee und aßen Platz dazu“. Leben in der Bonner Nordstadt 1850 – 1990, Bonner Geschichtswerkstatt (Herausgeber), Bonn 1991
Tolle Infos zu einem Stadtteil, der immer mal wieder einen Besuch wert ist.
Ein interessanter Blog – und dabei noch das schöne alte Buch der Bonner Geschichtswerkstatt ausgegraben. Aber August und Elisabeth Macke sind übrigens nicht in die Nordstadt gezogen, weil sie sich was anderes nicht leisten konnten. Das Haus gehörte dem Vater von Elisabeth, dem Fabrikanten Gerhardt. Das kann man im Macke-Haus erfahren oder bei Wikipedia nachlesen 🙂
.. tja, so soll es sein: danke für den Hinweis! Der „Fehler“ ist repariert ..